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Die Schlagschatten werden länger

"Die Nacht kurz vor den Wäldern" von Bernard-Marie Koltès im Theater TIEFROT in Köln

 

Wenn sich die gegenwärtige Finanzkrise zu einer gefährlichen Weltwirtschaftsflaute auswächst, dann werden sie noch zahlreicher. Die Arbeitslosen, die Gestrandeten, die von den Produktikonsbetrieben Ausgeschlossenen. Und der Theatermonolog von Bernard-Marie Koltès, der dem Elend eines solchen unfreiwilligen Aussenseiters bestürzenden Ausdruck gibt, wird immer aktueller.

 

Ein Mann hat irgendwann seine Arbeit verloren - und damit seinen Platz in der bürgerlichen Lebenswelt. Es ist schon länger her. Er ist mittlerweile auf der untersten Stufe der sozialen Hierarchie angekommen. Er irrt durch die Straßen, über die Brücken, durch die Öde bis zum Waldrand. Er gestikuliert und quasselt und flüstert und schreit. Er schlägt um sich, ohne jemanden zu treffen. Er ruft nach Menschen, die seine Probleme zur Kenntnis nehmen sollen. Aber niemand kümmert sich um ihn. Niemand will wissen, wie ihn seine erfolglose Anmache beim anderen Geschlecht zermürbt. Niemand interessiert sich für seine Beteuerungen, er sei nicht schwul, niemand will seine Erklärungen hören, wie und warum er in die Armut geraten ist. Aber auch er selbst interessiert sich für niemanden mehr als für sich selbst. Er verliert sich zwischen Depression und Euphorie, zwischen Minderwertigkeitsgefühl und Hybris in einem Teufelskreis, aus dem es wohl kein Entrinnen mehr gibt.

 

Die große Sprachkunst von Bernard-Marie Koltès belässt es nie bei der eindimensionalen Schilderung der Realität. Sie bewegt sich auf verschiedenen ästhetischen Ebenen. Der Teufelskreis erscheint in diesem Kaleidoskop der dramatischen Verdichtungen nicht nur als Einzelschicksal, sondern immer auch als ein Teil der "condition humaine", als eine latente Gefahr in jedem menschlichen Leben.

 

Dem Autor gelang beim Festival von Avignon 1977 damit der Durchbruch als Dramatiker; von heute aus gesehen liest sich das Stück zudem wie eine Prophezeiung der fatalen Folgen des ungebremsten Raubtierkapitalismus.

 

Karsten Schönwald verzichtete in seiner Inszenierung auf vordergründige Spielelemente und setzte ganz auf den Spannungsbogen zwischen realistischer Zustandsbeschreibung und assoziativer Überhöhung. So entstand eine fugenhafte Form von suggestiven Steigerungen der zwanghaft ausgestossenen Klagen und Anklagen des Protagonisten. Der Abend zieht auf diese Weise den Zuschauer beschwörend und immer unausweichlicher in seinen Bann.

 

Marcus M. Mies tritt auf und ist von Anfang an in höchster Alarmstimmung. Er verleiht der Rolle des Ausgestoßenen, manisch auf sich selbst Konzentrierten eine durchschlagende, nie erlahmende Kraft, wenn auch die sprachliche Differenzierung und die schauspielerische Wahrhaftigkeit nicht immer ganz der Größe des Textes entsprechen.

 

Die Ausstattung von Dejan Radulovic beschränkt sich klug auf zwei große Verwirrspiegel als Hintergrund, die alle Aktionen und Reflexionen des Menschen auf der Bühne zurückwerfen und vervielfältigen. Am Schluss weiten sie sich zu Vitrinenfenstern, hinter denen kopflose, verstümmelte kleine Körper sichtbar werden. Eine Apotheose der Chancenlosigkeit.

 

Premiere im Theater TIEFROT am 26.11.2008

 

Weitere Vorstellungen im Theater TIEFROT in Köln, Dagobertstraße 32

So., den 25.01.09, um 11.00 Uhr

Mo., den 26.01.09 um 20.30 Uhr

Do., den 05.02.09 um 20.30 Uhr

Fr., den 06.02.09 um 20.30 Uhr

Sa., den 07.02.09 um 20.30 Uhr

So., den 08.02.09 um 20.30 Uhr

www.theater-tiefrot.de

 

Eine Produktion von theater24

www.theater24.net

 

 

 

 

 

 

 

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