Logo of theaterkompass.de
HomeBeiträge
TRAGISCHE IMPRESSIONEN IM PARKHAUS - Premiere "City X - Fragmente eines Krieges" des Schauspielhauses StuttgartTRAGISCHE IMPRESSIONEN IM PARKHAUS - Premiere "City X - Fragmente eines...TRAGISCHE IMPRESSIONEN...

TRAGISCHE IMPRESSIONEN IM PARKHAUS - Premiere "City X - Fragmente eines Krieges" des Schauspielhauses Stuttgart

Premiere Sa – 06. Mai 23

Premiere "City X - Fragmente eines Krieges" als Audioführung des Schauspielhauses am 6.5.2023/STUTTGART

"Ich hatte auf einen ruhigen Lebensabend gehofft, aber am 24. Februar 2022 flog um 5 Uhr morgens eine Rakete über unser Haus und explodierte ganz in unserer Nähe", sagt die Erzählerin Nadia. Diese Audioführung von Gernot Grünewald mit Texten von Maryana Smilianets und Luda Tymoshenko führt dem Theaterbesucher die Schrecken des russischen Angriffs auf die Ukraine schonungslos vor Augen. Die Luftschutzkeller werden hier in den unergründlichen Weiten eines Parkhauses sichtbar.

 

Copyright: Björn Klein

Erschreckende und grauenvolle Bilder kann man aber nur erahnen, trotzdem bleibt immer wieder das Gefühl konstanter Bedrohung. Außerdem ist mit dem Kopfhörer auch Sirenengeheul zu hören. Die Zuschauer sind zunächst außerhalb des Theaters im großen Park vor dem Staatstheater unterwegs, um dann in ein großes Parkhaus hinabzutauchen. Eine interessante Idee, denn sie werden von der Schauspielerin Gabriele Hintermaier angeleitet. Die Kriegswirklichkeit holt den Zuschauer wiederholt ein, lässt ihn nicht mehr los. Die Berichte aus ukrainischen Städten vermischen sich hier in beklemmender Weise mit den Erzählungen verzweifelter Menschen, die ihre Heimat verlassen mussten.

Der tragische Kampf um die Unabhängigkeit einer Nation verlagert sich dabei in den Stuttgarter Stadtraum. Eine Kriegswirklichkeit wird auf den tagtäglich erlebten Frieden projiziert. "Ich werde hoffen und glauben, dass unser Sieg und der Frieden kommen werden", sagt die Protagonistin Nadia, die das Publikum mit ihrer Stimme durch das schwach beleuchtete Parkhaus führt. Sie erklärt den Gästen auch, dass der Name Nadia eigentlich "Hoffnung" bedeutet. Die Veränderungen im Alltag einer vom Krieg gezeichneten Stadt und im Leben ihrer Bewohner können die Betrachtenden nachvollziehen.

Der parallele Erfahrungsraum, den Gernot Grünewald hier sehr subtil inszeniert, stellt das Schicksal der Betroffenen in den Fokus: "Wir sind hier zu Hause. Das ist unsere Stadt." Nadia stellt dem Publikum sogar ihren Notfallkoffer vor, in dem sich neben anderen Utensilien ihr Unviersitätsabschluss befindet. Der Gitterraum verdeutlicht auch die geheimnisvolle Visualisierung der Wünsche. Gabriele Hintermaier gelingt es mit ihrer suggestiven Stimme, das Geschehen lebendig werden zu lassen. Die feine Linie zwischen der Normalität des Alltags und der Brutalität des Krieges wird durchbrochen. Der Zuschauer kann dabei immer wieder einzelne Türen öffnen und nimmt so aktiv am Geschehen teil.

Die Erzählerin ist eine 77jährige Frau, die sich weigert, ihre Heimatstadt wegen des Krieges zu verlassen. Es gibt in der Ukraine viele Frauen, die sich entschieden haben, trotz des Krieges in ihrer Heimat zu bleiben. Und alle Situationen beruhen auf wahren Begebenheiten. Man will zeigen, wie die Menschen Strategien entwickeln, um sich zur Wehr zu setzen. Sie haben Putin oft verflucht. So verdichten sich die beklemmenden Details immer mehr. Und der Zuschauer ist während der Vorstellung ständig gefordert, muss den Anweisungen der Erzählerin minuziös folgen, kommt nicht zur Ruhe.

Diese ständige Anspannung ist sicherlich gewollt, sie lässt den Betrachter nicht mehr los. Die Menschen müssen lernen, in dieser Absurdität zu überleben. Dazwischen ertönen immer wieder grelles Sirenengeheul, hektische Stimmen, Schritte, Aufregung, Gelächter, Chorstimmen (Sounddesign: Marian Hepp). Man sieht hier ganz unterschiedliche Frauen, die erschöpft im Bett liegen oder sich für ihre Hochzeit vorbereiten. Die Darsteller Inessa Demchenko, Varvara Denysiuk, Valeria Diadiukh, Yuliia Dzhola, Vitalii Kamskov, Inna Kerusova, Iryna Movsumova, Iuliia Myroniuk, Valentina Serhieviev, Volodymyr Serhieviev, Olha Sushko, Mariia Svynar, Valentyna Uliasheva, Daryna Zinova und Iryna Zamora lassen das Geschehen sehr plastisch Revue passieren.

Man sieht sogar eine orthodoxe Ikone, die vor Kerzen erkennbar wird. Durch diese Dokumentation wird die Tragödie in die künstlerische Form überführt. Und es gibt kaum dramaturgische Brüche. Die einzelnen Szenen gehen nahtlos ineinander über. Durch die permanente Entfernung vom Theaterraum ergibt sich für den Zuschauer aber eine neue Situation. Er muss erst lernen, damit umzugehen (Komposition: Daniel Sapir).  
 

Weitere Informationen zu diesem Beitrag

Lesezeit für diesen Artikel: 20 Minuten



Herausgeber des Beitrags:

Kritiken

Großstadtklänge --- „Surrogate Cities“ von Demis Volpi in der deutschen Oper am Rhein

Auf der leeren Bühne finden sich nach und nach das Orchester, die Tänzer und Tänzerinnen ein. Die Solo Posaune setzt ein und der Zuschauer wird in den Trubel der Straßen einer Großstadt versetzt. Zum…

Von: von Dagmar Kurtz

RÄTSEL UM ERLÖSUNG --- Wiederaufnahme von Richard Wagners "Götterdämmerung" in der Staatsoper STUTTGART

Die verdorrte Weltesche spielt bei Marco Stormans Inszenierung der "Götterdämmerung" von Richard Wagner eine große Rolle. Gleich zu Beginn zerfällt die Wahrheit in seltsame Visionen, der Blick der…

Von: ALEXANDER WALTHER

NICHT AUF DEN LITURGISCHEN BEREICH BESCHRÄNKT --- Bruckners e-Moll-Messe und Motetten bei BR Klassik

Anders als die frühe d-Moll-Messe blieb die 1866 in Linz komponierte e-Moll-Messe nicht auf den liturgischen Bereich beschränkt. Die alten Kirchentonarten stehen bei der Messe in e-Moll von Anton…

Von: ALEXANDER WALTHER

GLUT UND FEUER -- Jubiläumskonzert 40 Jahre Kammersinfonie im Kronenzentrum BIETIGHEIM-BISSINGEN

1984 wurde dieser für die Region so bedeutende Klangkörper von Peter Wallinger gegründet. Unter der inspirierenden Leitung von Peter Wallinger (der unter anderem bei Sergiu Celibidache studierte)…

Von: ALEXANDER WALTHER

EINE FAST HYPNOTISCHE STIMMUNG -- Gastspiel "Familie" von Milo Rau mit dem NT Gent im Schauspielhaus STUTTGART

Dieses Stück erzielte bei Kritikern zum einen große Zustimmung, zum anderen schroffe Ablehnung. Vor allem die nihilistischen Tendenzen wurden getadelt. Der Schweizer Milo Rau hat hier das beklemmende…

Von: ALEXANDER WALTHER

Alle Kritiken anzeigen

folgen Sie uns auf

Theaterkompass

Der Theaterkompass ist eine Plattform für aktuelle Neuigkeiten aus den Schauspiel-, Opern- & Tanztheaterwelten in Deutschland, Österreich und Schweiz.

Seit 2000 sorgen wir regelmäßig für News, Kritiken und theaterrelevante Beiträge.

Hintergrundbild der Seite
Top ↑